Ralf Melzer, Leiter des Regional-Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Sarajevo, über zerstörerische Kräfte in Bosnien und Herzegowina – und die Rolle der EU. (von Bascha Mika)
Herr Melzer, immer wieder provozierte Konflikte, politische Krisen – die Nachrichten vom Balkan klingen bedrohlich. Dabei leidet die Region noch immer unter den Folgen des Kriegs in den 90er Jahren mit seiner Vertreibungs- und Vernichtungspolitik. Kehren die Dämonen nun auf den Balkan zurück?
Die Dämonen waren immer da. In den vergangenen Monaten sind sie aber verstärkt in Erscheinung getreten, vor allem in Bosnien und Herzegowina. Hier verdichten sich die Probleme, man spürt die Spannungen besonders intensiv, weil es viele Akteure gibt, die mit diesen Dämonen spielen. Wenn öffentlich Überlegungen angestellt werden, wie auf dem westlichen Balkan neue Grenzen nach ethnischen Gesichtspunkten gezogen werden sollen, schrillen die Alarmglocken. Vor allem bei Menschen, für die die Kriegserfahrung noch sehr präsent ist oder die unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. Das Eis ist sehr dünn, diese Erfahrungen können jederzeit hervorbrechen.
Welche Dämonen treiben ihr Unwesen in der Region?
Die Dämonen des Ethno-Nationalismus. Die Vorstellung, dass Ethnien in homogenen Gemeinschaften leben sollen und bestehende Grenzen deshalb infrage gestellt werden. Die meisten politischen Parteien in der Region orientieren sich an diesen ethno-nationalen Linien und nicht an inhaltlichen Programmen. Hinzu kommt, dass das führende politische Personal in der Regel autokratisch und klientelistisch agiert und das Instrument des Ethno-Nationalismus zur eigenen Machtsicherung nutzt. Dem fallen Versuche der Zivilgesellschaft und einzelner Parteien, die Gräben zuzuschütten und demokratische Reformen auf den Weg zu bringen, zum Opfer.
st Europa eigentlich bewusst, wie explosiv die Lage ist?
Zu wenig. Immerhin war die neuerliche Ankündigung von Herrn Dodik, die Republika Srpska abzuspalten, ein Weckruf für die EU. Milorad Dodik ist einer der drei Staatspräsidenten, will aber für den von ihm repräsentierten Landesteil – der serbischen Entität – eigenes Militär, Justiz- und Steuerwesen und boykottiert seit Monaten die gesamtstaatlichen Institutionen, was alles illegal ist.
Was bezweckt er damit?
Es geht um eine Mischung aus Machterhalt und großserbischer Ideologie. Um seine Anhängerschaft zu mobilisieren, leugnet Dodik, dass Srebrenica ein Genozid war, greift die Internationale Staatengemeinschaft und ihren Hohen Repräsentanten frontal an und verfolgt eine großserbische Ideologie, die in den 90er Jahren zum Krieg geführt hat.
Es ist also nicht übertrieben, wenn politische Beobachter:innen vor einem politischen Zusammenbruch von Bosnien und Herzegowina und einem neuen Krieg warnen?
Man muss aufpassen, dass die Mischung aus politischer Rhetorik und knallharter ethno-nationalistischer Ideologie sich nicht erneut entzündet. Schon ein lokales Ereignis kann eskalieren und außer Kontrolle geraten. Hier sind viele Waffen im Umlauf, die verschiedenen Seiten sind nervös. Zweifellos ist die Situation beunruhigender als noch vor wenigen Jahren. Allerdings betreibt Dodik sein gefährliches Spiel schon seit langem. Nach meiner Einschätzung steht eine Auflösung der Institutionen oder ein Krieg nicht unmittelbar bevor.
Sind die beiden anderen Staatsführer gemäßigter? Der Bosnier Bakir Izetbegovic und der Kroate Dragan Covic?
Man ist ja im Grunde schon in die Falle getappt, wenn man in diesem Kontext von Bosniaken, Kroaten und Serben spricht. Auch Izetbegovic und Covic sind in erster Linie am eigenen Machterhalt interessiert und behindern demokratische Reformen. Covic verklausuliert das als „legitime Repräsentation“ und wird dabei massiv von der kroatischen Regierung in Zagreb unterstützt, die sich als Schutzpatron für die bosnischen Kroaten aufspielt. Das trägt zur weiteren Fragmentierung des Staates Bosnien und Herzegowina bei und torpediert alle Versuche, daraus ein funktionierendes politisches Gemeinwesen frei von Diskriminierungen zu machen. Auch Izetbegovic ist Teil des Problems. Aber die Destabilisierung zurzeit geht eindeutig von der Republika Srpska und von Dodik aus.
Wer hilft Dodik beim Zündeln?
Er macht es im Verbund mit dem serbischen Präsidenten Vucic und mit Rückendeckung von Wladimir Putin. Außerdem gibt es eine Allianz mit Viktor Orbán in Ungarn, der wiederum enge Verbindungen zu Janez Janša in Slowenien unterhält. Orbán hat der Republika Srpska 100 Millionen Euro Finanzhilfe zugesichert. EU-Erweiterungskommissar Várhelyi, ein Ungar, unterstützt einseitig Serbien bei dessen Beitrittskandidatur – ungeachtet der Rückschritte, die das Land bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gemacht hat. Und es stehen Vorwürfe im Raum, dass er Dodik bei seinen Plänen assistiert.
Die inneren Konflikte der Gemeinschaft setzen sich also auf dem Balkan fort?
Die EU verspielt viel an Kapital, weil sie uneinig und nicht in der Lage ist, ihre Werte und Ansprüche im Innern durchzusetzen. Sie hat auf dem westlichen Balkan massiv an Glaubwürdigkeit verloren. Im März 2020 wurden Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien beschlossen. Die werden aber bis heute von Bulgarien blockiert – mit absurd nationalistischen Argumenten.
Wie kommt es in der EU-freundlichen Bevölkerung wohl an, wenn die Beitrittsländer zum Spielball werden? Das ist verheerend und schafft gleichzeitig Raum für andere Akteure. Nicht nur für Russland, sondern auch für die Türkei, die sich als Schutzpatron für die bosnischen Muslime inszeniert. Der stockende Beitrittsprozess spielt den ethno-nationalistischen Kräften in die Hände.
Die Internationale Gemeinschaft hat Dodik und Konsorten mehrfach verwarnt, aber was tut sie konkret?
Die Internationale Gemeinschaft muss Grenzen aufzeigen und darf Dodik nicht länger als Gesprächspartner akzeptieren. Die Amerikaner haben Sanktionen gegen ihn verhängt, was vollkommen richtig ist; Präsident Biden kennt sich in der Region gut aus. Wenn die internationalen Bekenntnisse zur territorialen Integrität des Landes und zum multiethnischen Staat Bosnien und Herzegowina ernst gemeint sind, dürfen die ethnischen Gräben nicht weiter vertieft werden. Deshalb braucht es eine demokratische Wahlrechtsreform, die wegkommt von einer Ethnokratie mit Kollektivrechten für bestimmte Bevölkerungsgruppen.
Wie soll diese Region zur Ruhe kommen, wenn die Kriegsverbrechen von 1992 bis 1995 nie richtig aufgearbeitet wurden? Verurteilte Kriegsverbrecher werden von ihren Landsleuten noch immer als Helden verherrlicht.
Als Friedrich-Ebert-Stiftung arbeiten wir intensiv an diesem Thema: Warum ist es nicht gelungen, in fast 30 Jahren eine Gedenkkultur zu etablieren und auch die Opfer der anderen Seite anzuerkennen? Wir versuchen vor allem, die junge Generation zu erreichen, Begegnungsräume zu schaffen. Aber wenn es heute in einer Stadt wie Mostar Jugendliche gibt, die noch nie auf der anderen Seite der Brücke zwischen dem muslimisch geprägten und dem überwiegend kroatisch-katholischen Teil waren, wenn in Schulen getrennte Eingänge und getrennte Lehrpläne existieren, wenn Medien ethnisch-nationalistisch ausgerichtet sind…
…das klingt nicht danach, als könnte ein gemeinsames Verständnis von Geschichte vermittelt werden…
Zumindest ist es unter diesen Bedingungen schwer. Auch die jüngere Generation hat wenig Möglichkeiten, aus dem Teufelskreis der geschlossenen Narrative auszusteigen. Alle Seiten betreiben eine Selbstviktimisierung und weisen die Schuld komplett den Anderen zu. Viele Bemühungen, die Unversöhnlichkeit aufzubrechen und Empathie zu fördern, hatten bisher keinen Erfolg – obwohl es eine aktive Zivilgesellschaft und auch politische Parteien gibt, die das versuchen. Aber diese Stimmen werden marginalisiert, sie gehen im ethno-nationalistischen Mainstream unter. Wer sich dem entgegenstellt, wird als Verräter bedroht und angefeindet.
Zu den Traumata, die der Krieg hinterlassen hat, gehören ja nicht nur der Völkermord in Srebrenica, sondern auch die zigtausendfachen Vergewaltigungen von Frauen. Dennoch wurden diese Verbrechen nie öffentlich thematisiert.
Im hier vorherrschenden „Bigmanism“, dem autokratischen Regieren von einzelnen, mächtigen Männern, spielt das Thema Vergewaltigung als Kriegswaffe kaum eine Rolle. Opfergeschichten werden bis heute weitgehend beschwiegen. Wenn vergewaltigte Frauen in die Orte zurückgekehrt sind, aus denen sie vertrieben wurden, werden sie weiterhin ausgegrenzt und angefeindet – während die Täter einfach weitermachen, zum Beispiel als Polizisten, obwohl sie sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben. Wie kann Leid in so einem Umfeld anerkannt werden?
Auch in den Friedensprozess von Dayton wurden die gequälten Frauen nicht miteinbezogen. Wie kann das sein?
Es hat wohl mit Scham und Angst zu tun, sich mit dem eigenen Schicksal zu exponieren, eine ja durchaus auch berechtigte Befürchtung. Oder es war die Sorge, im herrschenden Brachialdiskurs nicht ernst genommen zu werden, vielleicht auch der Versuch zu vergessen. Viele Opfer konnten einfach nicht reden. Das gilt auch für Kinder von vergewaltigten Frauen.
Wie müsste die Zukunft der Region eigentlich aussehen?
Die Region müsste zur EU gehören, denn selbstverständlich war und ist der Westbalkan Teil Europas und kann kulturell, historisch und ökonomisch viel zu einer gemeinsamen europäischen Zukunft beitragen. Es müssten demokratisch verfasste Staaten sein, die untereinander eng kooperieren. Es müsste eine Region sein, in der die Menschen hier ihre persönliche und berufliche Zukunft sehen, statt jede Gelegenheit zu nutzen, um weg zu kommen. Der Braindrain aus dem Westbalkan ist dramatisch.
Weil die Frustration und die Angst so groß sind?
Die politische Frustration und das mangelnde Vertrauen in die politischen Eliten sind da. Auch der Wunsch, einen guten Job in EU-Europa zu ergattern. Dennoch herrscht keineswegs völlige Depression. Es ist erstaunlich, dass angesichts der vielen Probleme die Stimmung in der Bevölkerung gar nicht so schlecht ist. Wirklich bewundernswert, wie viel Optimismus, Lebensmut und Vorwärtsgewandtheit die Menschen hier haben. (Interview: Bascha Mika)
Zur Person
Ralf Melzer, geboren 1967, studierte Geschichte, Germanistik und Publizistik an der FU-Berlin. Nach freiberuflicher Tätigkeit als Journalist und Historiker arbeitet er seit 2004 in wechselnden Funktionen für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Seit Juni 2020 leitet er das FES-Regionalbüro Dialog Südosteuropa in Sarajevo. Davor stand er auch den FES-Büros in Tunis und München vor und war im Referat Naher/Mittlerer Osten und Nordafrika zuständig.Seine hier zum Ausdruck gebrachten Meinungen sind nicht zwangsläufig die der Ebert-Stiftung. (mik)
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